Heiko Eckard – Freitag, 10. September 2021 – Jenseits der Schlagzeilen – Ob “Inday” Sara nun ihre Kandidatur bei den Wahlen 2022 endgueltig verworfen hat – wie die Schlagzeile der heutigen “Times” suggeriert: “Sara will not run for president” – halte ich fuer vorlaeufig unentschieden, da Ihr Vater, Praesident Rodrigo Roa Duterte, jederzeit seine Zusage fuer seine Partei als Vize zu kandidieren zurueckziehen kann, weil der Partner, Senator “Bong” Go, halt nicht mitzieht. Und da wird die Formulierung von “Inday” Saras Absage wichtig. Sie hat nicht gesagt, dass sie nicht kandidieren wird, sondern sie sagte lediglich, dass sie und ihr Vater uebereingekommen sind, nicht beide zugleich fuer einen nationalen Posten anzutreten.
Zieht Papa Duterte seine Zusage zurueck, ist fuer Tochter Sara wieder alles offen – also, abwarten, was bis zum 8. Oktober noch gesagt wird.
Wo es ansonsten nichts Aufregendes zu berichten gibt, haengen meine Gedanken noch an dem Begriff “Paradigma”, ueber den ich gestern in einem Kommentar in “China Daily” stolperte. Dieser Begriff begegnete mir, als ich in meinem Philosophie-Studium im Wintersemester 1974/75 das Seminar “Fallstudien zur Wissenschaftsgeschichte” von Hans Blumenberg besuchte. Der machte auf das Buch von Thomas S. Kuhn “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen” aufmerksam, worin jener beschreibt, wie sich Theorien aus einem Fundus praktischen Vorgehens naehren, wie man eine Behauptung belegt, wie sie in die Theorie zu uebernehmen und auszuwerten ist. Die Begriffe knuepfen an bestimmte Techniken, wie man mit Instrumenten und Werten umzugehen hat. Dieses Ensemble aus Theorie und Praxis bezeichnet Kuhn als Paradigma, und der Uebergang von einer Theorie zu einer anderen ist dann halt ein Paradigmen-Wechsel.
Der Begriff machte in den Feuilletons Furore, sodass schlieszlich selbst das Wechseln der Unterhose als Beispiel fuer einen Paradigmen-Wechsel herhalten musste. Gemeint waren damit mal Ereignisse wie die kopernikanische Wende, Darwins Evolutionstheorie, Einsteins Relativitaetstheorie oder der Wechsel wissenschaftlicher Ansichten in dieser Preisklasse.
Mich hat das damals beeindruckt, doch das spukte im Hinterkopf, weil eine “Revolution” des Denkens zwar beindruckend ist, den Wechsel selbst aber nicht verstaendlich macht – grad das aber waere interessant.
Auf die Philosphie der Geschichten kam ich in den 90er-Jahren, als ich die Philosophie als moeglichen Beruf an den Nagel gehaengt hatte und als Programmierer meine Broetchen verdiente. Da stolperte ich ueber die Buecher von Wilhelm Schapp “In Geschichten verstrickt” aus dem Jahre 1953 und “Philosophie der Geschicten” aus 1959. Die zwei Buecher waren nicht populaer, weil Schapp kein Universitaets-Professor, sondern Rechtsanwalt und Notar in Aurich war. Auf die Philosophie, die er mal studiert hatte, kam er nach seinem Berufsleben als Hobby zurueck.
Er hatte keine Schueler und schwamm in den 50er- und 60er-Jahren gegen den Mainstream, der sich aufmachte in Richtung Kuenstliche Intelligenz, die sich an Regeln und Grammatiken klammerte und mit dem Begriff der Geschichte nichts anzufangen wusste. Die aber bilden – gemaesz Schapp – “den Horizont der Erkenntnis”.
Ich habe in Absprache mit der Wissenhscfatlichen Buchgesellschaft in Darmstadt dazu 2006 ein Buch geschrieben, “50 Jahre nach Dartmouth”, dessen Veroeffentlichung die WB aber ablehnte, weil das “nicht wissenschaftlich” war. Auch da gibt es “Paradigmen”, was dazu gehoert und was besser auszen vor bleibt.
Ich habe das Buch bei Books on Demand selbst herausgegeben und erlebte das, was Schapp auch widerfahren war – wenn man nicht im Mainstream schwimmt, nicht ins gueltige Paradigma passt, kann man ein paar Freunde und Bekannte beeindrucken, das war’s dann aber auch.
Umso aufregender nach dieser Vorgeschichte ist nun, wenn ich auf einen Kommentar von Andrew Sheng und Xiao Geng stosze mit der Ueberschrift “Paradigm blindness produces bad policy”. Sie wehren sich gegen die Blindheit, die ein Paradigma erzeugt, wenn man es wie einen Aluhut nur fest genug aufsetzt, und so die Augen und damit den “Horizont der Erkenntnis” verdeckt.
Beide Herren haben mit Philosophie nichts am Hut. Andrew Sheng ist Distinguished Fellow am Asia Global Institute der University of Hong Kong und Mitglied des UNEP Advisory Council on Sustainable Finance. Xiao Geng ist Vorsitzender der Hong Kong Institution for International Finance und Professor und Director am Institute of Policy and Practice des Shenzhen Finance Institute an der Chinese University of Hong Kong, Shenzhen.
Doch sie haben sich nun Gedanken gemacht, wie sich “Paradigmen-Blindheit” in der Politik auswirkt, die ich dem Leser nicht vorenthalten moechte, da ich viel darin finde, was sich unter dem Blick einer Philosophie der Geschichten verstehen laesst. Daher hier ungekuerzt in der Uebersetzung von DeepL ihr Kommentar aus der “China Daily”:
“ Wir leben in einem Zeitalter des systemischen Stillstands, des politischen Chaos und des plötzlichen Scheiterns. Wie ist es möglich, dass die afghanischen Sicherheitskräfte – die vom US-Militär über zwei Jahrzehnte hinweg für 83 Milliarden Dollar aufgebaut und ausgebildet wurden – in nur 11 Tagen einer Miliz von Kämpfern in Pickups unterlegen waren? Wie konnten Amerikas beste und klügste Geheimdienst-Experten und Militärs nicht voraussehen, dass der rasche Abzug der US-Luftunterstützung und -Aufklärung eine Katastrophe für Afghanistan bedeuten würde, und ihren Rückzug entsprechend planen? Sind das nicht Beispiele für System-Versagen?
“ Bei fast jeder Krise gibt es mehrere Ursachen und Auslöser. Das gilt für die Situation in Afghanistan ebenso wie für die COVID-19-Pandemie – eine weitere multidimensionale Krise, für die es keine Patentlösung gibt. Selbst sorgfältig konzipierte politische Maßnahmen, die von den besten Absichten motiviert sind, können aufgrund von Umsetzungs-Fehlern die beabsichtigte Wirkung verfehlen und die Probleme oft auf unerwartete Weise verschärfen.
“ Das Problem lässt sich auf ein Ungleichgewicht der Komplexität zurückführen. Die verschiedenen Krisen und Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, wie z. B. Terrorismus, Pandemien und Desinformation, haben virale, verschlungene Qualitäten, und komplexe globale Netzwerke lassen lokal entstandene Probleme viel schneller wachsen und sich ausbreiten als Lösungen. Das Paradigma, auf das wir unsere Politikgestaltung stützen, ist jedoch linear, mechanisch und “rational”.
“ Dieser Ansatz lässt sich bis zu politischen Philosophen wie Thomas Hobbes zurückverfolgen, der einen geradlinigen, von oben nach unten gerichteten Ansatz zur Steuerung der menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage “universeller” Wahrheiten anbot. Das newtonisch-kartesianische Paradigma, das das wirtschaftliche Denken leitet, ist ähnlich mechanisch und verfolgt eine zeitlose, allgemeingültige Theorie von allem.
“ Ein solcher Ansatz mag uns zwar helfen, kleine Staaten oder Gemeinschaften zu verstehen oder zu regieren, er ist jedoch in einem hochkomplexen globalen System unpraktisch. Und dennoch halten wir an diesem Ansatz fest. Das macht uns blind für das Offensichtliche – einschließlich unserer eigenen Blindheit – und anfällig für konzeptionelle Fallen und Probleme beim kollektiven Handeln, die zu Unentschlossenheit, Untätigkeit und Inkonsequenz führen. Ohne einen neuen Ansatz, der die wahre Komplexität unserer Welt erfasst, werden wir weiterhin von System-Fehlern überrumpelt werden.
“ Wir sollten uns an der Natur orientieren. Wie der Biologe Stuart Kauffman hervorgehoben hat, stellte der Philosoph Immanuel Kant im 18. Jahrhundert fest, dass alles in der Natur “nicht nur durch die anderen Teile existiert, sondern als um der anderen und des Ganzen willen existierend gedacht wird”, d. h. “als (organisches) Instrument”. Mit anderen Worten: Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile, und sowohl negative als auch positive Rückkopplungs-Mechanismen verbinden die verschiedenen Teile, die das Ganze bilden und verändern.
“ Wenn die Erde ein einziges lebendes System ist, ist die Verwaltung jeder einzelnen Komponente nicht nur ineffektiv, sondern hat potenziell katastrophale, unbeabsichtigte Folgen. Auch in unserem umfassenderen globalen System, das sowohl lebende als auch nicht lebende Teile umfasst, werden Maßnahmen, die auf einer Nullsummen-Logik oder einem Silo-Denken basieren, immer zu kurz greifen – oder schlimmer noch.
“ Ein besserer Ansatz wäre es, wie die verstorbene Donella Meadows argumentierte, sich auf die so genannten Hebelpunkte in komplexen Systemen zu konzentrieren, “wo eine kleine Veränderung in einer Sache große Veränderungen in allem bewirken kann”. Probleme sind keine Nägel, die man einschlagen muss, sondern Symptome von System-Fehlern, die man am besten dadurch behebt, dass man auf eine Reihe von tragenden Einrichtungen einwirkt.
“ Dies könnte zum Beispiel bedeuten, dass Subventionen, Steuern und Normen geändert werden, dass negative Rückkopplungs-Schleifen reguliert und positive Rückkopplungs-Schleifen gefördert werden, dass der Informationsfluss verbessert oder eingeschränkt wird oder dass Anreize, Sanktionen und Zwänge aktualisiert werden. Entscheidend ist, dass es auch bedeuten könnte, die Denkweise oder das Paradigma zu ändern, aus dem Systemziele, Machtstrukturen, Regeln und die Entscheidungskultur hervorgehen.
“ Die Politikwissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom lieferte ebenfalls wichtige Erkenntnisse für das Management komplexer Systeme, insbesondere zur Vermeidung der Kollektivitäts-Falle. Wie Ostrom erklärt, entsteht die Falle durch ein binäres Nullsummen-Denken. Der Schlüssel zu ihrer Vermeidung liegt daher in der Schaffung lokaler Gemeingüter, die aus gemeinsamen Ideen, Eigentum, Werten und Verpflichtungen bestehen. Wenn unsere Schicksale und Interessen miteinander verflochten sind – und auf längere Zeithorizonte ausgerichtet sind – ist es viel wahrscheinlicher, dass verschiedene Parteien zusammenarbeiten, um die “Tragödie der Allmende” zu vermeiden.
“ Leider hat der von Männern dominierte Mainstream die Erkenntnisse von Meadows und Ostrom weitgehend ignoriert. Ihre Ideen stimmen jedoch mit der chinesischen Weltsicht des organischen Materialismus überein, wie sie der britische Sinologe Joseph Needham formuliert hat.
“ Wie Meadows entscheiden sich auch die Chinesen dafür, “auf den zugrunde liegenden Trend der Kräfte einzuwirken”. Und im Geiste Ostroms vermeiden die Chinesen die Sichtweise der chinesisch-amerikanischen Rivalität als Nullsummen-Wettbewerb zwischen westlicher Demokratie und chinesischer Autokratie und befürworten stattdessen die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Herausforderungen.
“ Chinas organischer Ansatz spiegelt seine lange Geschichte der Bewältigung von System-Zusammenbruch und Verjüngung wider. Diese Erfahrung hat gezeigt, dass eine mechanische Planung von oben nach unten zwar nützlich ist, aber mit einer Umsetzung und Anpassung von unten nach oben kombiniert werden muss. Streng überwachte, in beide Richtungen wirkende Rückkopplungs-Mechanismen stellen sicher, dass nationale, lokale und kommunale Ziele aufeinander abgestimmt, politische Fehlentscheidungen korrigiert und Verhaltensweisen auf Mikroebene, die die systemische und soziale Stabilität bedrohen, kontrolliert werden.
“ Wenn etwas nicht funktioniert, setzen chinesische Ingenieure und Planer an Hebelpunkten an – oder an “wichtigen Ansatzpunkten” – und verfeinern beispielsweise Standards, Anreize, Vorschriften, Informationen oder Ziele. Wenn direkte oder “positive” (Yang) Interventionen fehlschlagen, werden indirekte oder “negative” (Yin) Ansätze angewandt. Dieser offene, experimentelle Ansatz, der anerkennt, dass die Wirtschaft ein komplexes, anpassungsfähiges System ist, hat Chinas Wirtschaftswunder ermöglicht.
“ Wie Meadows erklärte, geht es darum, “flexibel zu bleiben”. Schließlich ist “kein Paradigma ‘wahr'”, und “jedes Paradigma, einschließlich desjenigen, das Ihre eigene Weltanschauung prägt, ist ein ungeheuer begrenztes Verständnis eines immensen und erstaunlichen Universums”. Warum sollten wir uns selbst weiter einschränken – und zu weiterem Stillstand und Chaos einladen -, indem wir uns an Nullsummen-Logik, binärem Denken und sinnlosem Wettbewerb festhalten?”
Gemaesz “Manila Times”, “China Daily” u.a. uebersetzt mit DeepL.
Erstmals fand ich Heikos Kolumne nicht nur lesenswert, sondern auch fesselnd. Er sollte mehr philosophieren statt ständig mit pro-Duterte gefilterter Propaganda zu langweilen.
Heiko schreibt über Tatsachen, ich kann da keine Pro-Duterte Propaganda herauslesen.