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Welche Länder wachsen, welche schrumpfen – und was das für die Welt bedeutet

Hamburg, Deutschland – Die Weltbevölkerung soll noch in diesem Jahrhundert stagnieren. Für den Forscher Paul Morland ist Europa ein demografisches Katastrophengebiet. Er sagt, warum er es nicht für sinnvoll hält, für das Klima auf Kinder zu verzichten.

In diesem November wird die Weltbevölkerung auf acht Milliarden Menschen angewachsen sein. Dann soll sie noch in diesem Jahrhundert mit rund 10,4 Milliarden ihren Höchststand erreichen – und ab 2098 wieder schrumpfen. Diese Erkenntnisse gehen aus dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen zur Demografie hervor.

Mehr als die Hälfte des Wachstums der Erdbevölkerung bis 2050 wird auf nur acht Länder zurückzuführen sein: den Kongo, Ägypten, Äthiopien, Indien, Nigeria, Pakistan, die Philippinen und Tansania. Indien soll China schon bald als bevölkerungsreichstes Land der Erde ablösen.

Der Demografieforscher Paul Morland erklärt, was die globalen Trends für die zukünftige Weltordnung bedeuten, warum gerade Europa sich in einer demografisch misslichen Lage befindet – und, wie es gegensteuern kann.

SPIEGEL: Herr Morland, zum ersten Mal seit 1950 wuchs die Bevölkerung zuletzt um weniger als ein Prozent. Wie lässt sich das erklären?

Paul Morland: Von Portugal bis Singapur gehen die Geburtenraten stark zurück. Das ist kein europäisches Phänomen, sondern ein globales. In Europa, Japan, Nordamerika, Australien und Neuseeland liegen wir schon seit Langem unter dem Niveau von 2,1 Geburten pro Frau, das für die Reproduktion der Bevölkerung nötig wäre. Aber die Geburtenraten verringerten sich auch in vielen Ländern Asiens und Lateinamerikas und sogar in Subsahara-Afrika. In Indien und China gingen sie ebenfalls viel schneller zurück als erwartet, wenngleich Indien immer noch wächst.

SPIEGEL: Der Chefredakteur der britischen Fachzeitschrift »The Lancet«, Richard Horton, sprach angesichts des demografischen Wandels von einer Revolution in der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Europa und viele asiatische Länder würden an Einfluss verlieren. Ende des Jahrhunderts würden wir in einer multipolaren Welt leben, in der Indien, Nigeria, China und die USA die dominanten Kräfte seien. Stimmen Sie der Analyse zu?

Morland: Als Demograf kann ich geopolitisch nur begrenzt Prognosen abgeben. Was klar ist: Indien und Nigeria haben großes Potenzial, Bevölkerungswachstum schafft enorme Möglichkeiten. Das bedeutet nicht, dass sie auch genutzt werden. Im Fall von Nigeria bin ich mir nicht sicher. Indien scheint seine demografischen Vorteile aber gut umzuwandeln: Bei allen Problemen sehen wir eine große Wirtschaftskraft und eine selbstbewusste Gesellschaft entstehen. Chinas Lage sehe ich weniger positiv.

SPIEGEL: Indien soll die Volksrepublik bald als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen. Was bedeutet das für China?

Morland: Demografie ist nicht alles, aber es sieht wirklich düster aus für China. Das Reservoir an Arbeitskräften nimmt ab. Eine junge Bevölkerung machte einst den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas möglich. Aber jetzt verlassen mehr Menschen den Arbeitsmarkt als nachkommen. Außerdem ist China noch immer ein relativ armes Land – und für Einwanderer unattraktiv. Was in so einer Situation passiert, kann man am Beispiel Japans sehen: Japan galt als Zukunftsland. Dann kam es an den demografischen Punkt, an dem jetzt auch China steht – und es folgten 30 Jahre ökonomischer Stagnation.

SPIEGEL: Welche Rolle spielte die Ein-Kind-Politik für diese Entwicklung?

Morland: Die Ein-Kind-Politik war unnötig. Die Geburtenrate in China war schon in den zehn Jahren vor der Einführung von sechs auf drei gefallen. Nun hat das Land viel zu wenige Kinder. Aktuell zwischen 1 und 1,5 pro Frau. Das bedeutet, dass die Bevölkerung rapide altert und schließlich sogar schrumpfen wird.

SPIEGEL: Auch in Indien ist die Geburtenrate stark gesunken.

Morland: Indien befindet sich aber an einem anderen Punkt. Es gibt noch einen hohen Anteil an jungen Frauen, also werden immer noch viele Kinder geboren. Indien hat demografisch gesehen also eine gute Phase vor sich.

SPIEGEL: Den USA wird ebenfalls prognostiziert, eine der großen, globalen Mächte zu bleiben – obwohl die Geburtenrate dort niedrig ist.

Morland: Die USA haben einen großen Vorteil: Sie sind für Einwanderer nach wie vor sehr attraktiv. Jemand sagte mal zu mir: Die USA sind wie eine Maschine, die Amerikaner macht. Und das stimmt. Die USA sind sehr gut darin, Menschen in ihre Gesellschaft zu integrieren, auch deshalb, weil sie das als Einwanderungsgesellschaft seit gut einem Jahrhundert machen. Ich denke, die vielen Migrantinnen und Migranten aus Lateinamerika werden sich ebenfalls gut integrieren. Deswegen sind die USA demografisch gesehen in einer viel besseren Lage als Europa.

SPIEGEL: Wie sehen Sie die Lage in Europa?

Morland: Europa ist ein demografisches Katastrophengebiet. Es gibt die Länder, in denen es schlecht läuft, wie Frankreich, Großbritannien, Irland und Skandinavien und dann noch die, in denen es miserabel läuft: Portugal, Spanien, Italien, Deutschland, der Balkan. Diese Länder stehen vor dem, was ich das demografische Trilemma nenne. Es gibt drei entscheidende Größen: eine dynamische Wirtschaft, ethnische Kontinuität und den Egoismus, sich als Gesellschaft kleine Familien zu leisten. Man kann zwei von diesen drei Dingen haben, aber nicht alle drei. Die Japanerinnen und Japaner etwa haben sich dafür entschieden, weiterhin kleine Familien haben zu wollen und dennoch ethnische Kontinuität anzustreben – also wenig Einwanderer ins Land zu lassen. Es bezahlt dafür mit wirtschaftlicher Stagnation. Großbritannien hat eine dynamische Wirtschaft trotz kleiner Familien – aber setzt auf Masseneinwanderung, die das Land ethnisch verändert. Das einzige Beispiel eines hoch entwickelten Landes, das sich vom Luxus kleiner Familien verabschiedet hat, ist Israel. Es hat eine extrem dynamische Wirtschaft und erhält zugleich die jüdische Mehrheit. Das geht aber nur, weil die Geburtenrate hoch ist und die Großfamilie Norm.

SPIEGEL: Europa muss sich also entscheiden?

Morland: Wenn die Menschen in Europa keine Kinder wollen, dann müssen sie sich entweder mit einer schrumpfenden Wirtschaft anfreunden, oder mit dem Gedanken, sehr viel mehr Einwanderer aus fremden Kulturen, mit anderen Sprachen, Religionen und Vorstellungen ins Land zu lassen.

SPIEGEL: Was viele Europäerinnen und Europäer bisher ablehnen.

Morland: Was mich besorgt, ist das Gerede vom großen »Bevölkerungsaustausch«. Natürlich kann man über Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung sprechen. Aber niemand »erfindet« das für Europa. Das ist keine Verschwörung von George Soros. Es ist das Ergebnis der Entscheidung, sich nicht selbst zu reproduzieren – aber gleichzeitig zu erwarten, dass die Wirtschaft boomt, dass jemand den Bus fährt, den Müll einsammelt oder die Herzoperation macht.

SPIEGEL: Immerhin ist Europa im Gegensatz zu China attraktiv für Einwanderer. Gibt es also zumindest potenziell die Möglichkeit, die demografischen Probleme durch Einwanderung zu lösen?

Morland: Europa ist beliebt, aber nicht besonders zugänglich. Für Einwanderer, etwa aus Afrika oder dem Nahen Osten, ist es viel schwieriger, sich in europäische Gesellschaften einzufügen. Es gibt starke kulturelle und sogar optische Hürden.

SPIEGEL: Wie würde Ihrer Ansicht nach eine gute Lösung für Europa aussehen?

Morland: Wir sollten einen modernen, progressiven Natalismus erschaffen, eine Gesellschaft, in der Frauen Kinder wollen, Männer bereit sind, ihren Part zu übernehmen und Unternehmen Vereinbarkeit fördern. Menschen möchten Karriere machen, Männer wie Frauen, wollen einen modernen Lifestyle. Wie können wir das ermöglichen, wenn gleichzeitig Kinder geboren werden sollen? Dazu gehört auch, Mutterschaft neu zu erfinden und zu ermöglichen.

SPIEGEL: Hat eine schrumpfende Weltbevölkerung nicht auch positive Seiten?

Morland: Alte Bevölkerungen sind friedlicher und weniger kriminell. Außerdem kann da, wo sich der Mensch zurückzieht, wieder mehr Raum für Natur entstehen.

SPIEGEL: Heute gibt es junge Menschen, die auch aufgrund des Klimawandels auf Kinder verzichten wollen.

Morland: Weniger Menschen bedeuten nicht zwangsläufig weniger Emissionen. Ich würde die Bevölkerung nicht aufgrund des Klimawandels reduzieren wollen. Ich denke, wenn junge Menschen sagen, dass sie wegen des Klimawandels keine Kinder möchten, aber gleichzeitig erwarten, dass sie jemand im Supermarkt bedient oder ihre Eltern pflegt, dann wollen sie diese Dienstleistungen konsumieren, sind sich aber zu fein, um sie zu produzieren. Ich sehe das kritisch. Wir sollten stattdessen unseren Lebensstil ändern – und auch auf technische Lösungen bei der Bekämpfung des Klimawandels setzen. Das Letzte, was wir opfern sollten, sind potenzielle Leben, für mich das wertvollste überhaupt. – SPIEGEL/RM

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